Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Heilige Spiele

Workshop im Rahmen des Forschungsforums „Literatur und Religion“ für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 6.-7. Oktober 2022

Im Titel des diesjährigen Workshops des Forschungsforums Literatur und Religion verbinden sich zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen: der gravitätische Ernst des Heiligen und die Leichtigkeit des Spiels. Der Ausdruck erinnert an die religiösen Ursprünge des Spiels aber auch an die Spannung zwischen sakralem Ritual und ‚freiem Spiel‘ sowie an die tragende, vielleicht selbst schon sakrale Rolle der Vorstellung eines solchen Spieles auch noch in den (post)modernen Gesellschaften, die durch Tendenzen der Ästhetisierung und Theatralisierung des Lebens geprägt sind. Ausgehend von dieser Fügung und der in ihr angespielten Verbindung verschiedener Denkzusammenhänge wollen wir danach fragen, wie sich diese Verschränkungen von Ludischem und Sakralem in konkreten kulturellen Praktiken und Texten manifestieren und wie die erwähnten Denkzusammenhänge es erlauben, solche Phänomene differenziert lesbar zu machen. Im Workshop lesen die Teilnehmenden gemeinsam einige Grundlagentexte zu diesen Fragen und diskutieren ihre Forschungsprojekte mit Bezug auf das Spannungsfeld heiliger Spiele.

Das Heilige avancierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Art Grundbegriff zur Bestimmung dessen, was eigentlich Religion sei. Die so verschiedenen Religionen teilen, so Rudolf Otto, keine bestimmten Glaubenssysteme, gesellschaftliche Funktionen oder psychischen Dispositionen, sondern eine Erfahrung: eben die des Heiligen. Aus anderen Theoriehintergründen ist für die Soziologie Emile Durkheims das Heilige zuallererst etwas Abgesondertes: Heilige Orte, heilige Zeiten, heilige Akteure sind jeweils solche, die sich vom profanen Raum, vom Alltag, von uns allen unterscheiden. Die Soziologie des Heiligen u.a. von Georges Bataille und Roger Caillois versuchte, Gesellschaft und insbesondere Gesellschaft über ihr ‚Anderes‘, über ihre Ausnahmen, Feste oder Exzesse zu bestimmen und zeigte dabei, wie hochgradig ambivalent und überdeterminiert jenes Heilige dabei war. Zwar ist der universalistische Anspruch des Heiligen in der zweiten Jahrhunderthälfte vielfältig kritisiert worden, zumal Otto seine Erfahrung des Mysterium tremendum ausgerechnet an Luther gemacht hatte. Nichtsdestotrotz bleibt die Denkfigur gerade in ihrer Ambivalenz – ist ‚das Heilige‘ ein Konzept der Theologie oder Religionswissenschaft? Ist es mysterium oder tremendum? Erlebt oder geglaubt? – weiterhin produktiv gerade für interdisziplinäre Fragestellungen.

Auch Spiele lassen sich ganz ähnlich als Formen der Erzeugung von Sinn und sozialem Zusammenhalt verstehen, gerade wo dies nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Denn auch für Spiele ist zum einen konstitutiv, dass sie sich vom Alltag unterscheiden, den sie unterbrechen und dem sie eigene Regeln entgegenstellen, Regeln, die dann oft wieder die Rigidität ritueller Abläufe haben. Zum anderen können auch sie leicht wichtiger als dieser Alltag werden, sogar zum Selbstzweck, nämlich dort, wo sie geradezu die Freiheit verkörpern, wie es einer der berühmtesten Sätze der idealistischen Ästhetik zum Ausdruck bringt: Schillers Diktum, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dabei wird der Bereich der Ästhetik als eine ‚höhere‘ Welt der Wirklichkeit gegenübergestellt und übergeordnet und damit die Erfahrung von Fülle und Sinn, die Otto und andere im Heiligen finden wollten, als Erfahrung der Kunst gedacht. Diese Formulierung erweist sich wiederum als erstaunlich resistent, etwa wenn die ästhetische Moderne zwar das idealistische Bildungsversprechen der Kunst aufgibt, diese aber trotzdem scharf von irgendeiner Zweckhaftigkeit unterscheidet. Dabei hat die ‚freie Kunst‘ gerade in der Spätmoderne, nach dem Glaubwürdigkeitsverlust der ideologischen Großerzählungen, einen zentralen Platz in der Selbstverständigung der Gesellschaft eingenommen.

Praktiken des Spielens und Erfahrungen des Heiligen durchdringen sich also wechselseitig, beeinflussen sich vielfältig und stellen sich auch vielfältig in Frage. Und das gilt auch im Bereich der Literatur: Denn wo diese im Modus der Fiktion, des als ob spricht, impliziert sie immer schon spielerische Momente, beansprucht aber auch, eine andere Form der Wirklichkeit zur Erfahrung zu bringen. Ambivalent und spannungsreich ist dabei, wie dieser Gegenstand dieser Erfahrung in ihr zum Ausdruck kommt: als etwas Erscheinendes oder auch als sich Entziehendes, Unfassbares, Numinoses, oder, in einer anderen Terminologie gesprochen: ob Kunst (apollinisch) als Bild von Ordnung und Schönheit figuriert wird oder (dionysisch) als potentielle Überforderung, wenn nicht gar Überwältigung der beteiligten ,Spieler‘, als Exzess und Auflösung vertrauter Formen und Gestalthaftigkeit. Wie sinnvoll ist es, diese ästhetische Erfahrung (auch) als einen Umgang mit dem Heiligen zu beschreiben?

Besonders das Theater ist unmittelbar mit heiligen Spielen verbunden. Geht doch schon die Tragödie aus der Wiederholung der heiligen Geschichte der Mythen einher, deren mythischer Zwang mit dem ‚Durchspielen‘ dieser Geschichte entschärft wird. Dabei wird auch Theater selbst in seiner Räumlichkeit, insbesondere mit seiner Unterscheidung zwischen Bühne und Zuschauerraum, zu einem Rahmen, der einerseits die Spielregeln der Darstellung stabilisiert, andererseits aber selbst ins Spiel gebracht werden kann, wenn über die Rampe hinweg auch der reale Raum ins Spiel gebracht wird wie im mittelalterlichen Passionsspiel oder im barocken Welttheater. Spätestens hier zeigt sich auch, wie potent das Theater nicht nur als Praxis, sondern auch als Denkfigur ist, weil das Spiel mit dem Raum, aber auch mit der Maske und mit der Rolle eine vielleicht unabdingbare Metapher der Selbstverständigung ist. Inwiefern lässt sich die Spannung des heiligen Spiels in vergangenen und gegenwärtigen theatralen Darstellungen und dramatischen Texten ablesen? Und lassen sich auch umgekehrt rituelle Praktiken und sprachliche Liturgien gewinnbringend als heilige Spiele oder gar als Inszenierungen und ‚Events‘ beschreiben?

Auch Literatur und Dichtung insbesondere lässt sich als Form des Spiels beschreiben: als Sprachspiel mit eigenen Regeln, das sich von der Alltagssprache absetzt und einen besonderen Bereich ausmacht. Nicht nur dezidiert sprachspielerische Poetiken wie etwa der barocke Concettismus oder die moderne Avantgarde arbeiten dabei konstant mit der Spannung von Regel und Überschreitung. Selbst in eher mimetisch orientierten Poetiken wird der dichterischen Sprache oft die Fähigkeit zugesprochen, außeralltägliche ‚höhere‘ Wirklichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Autoren können sich als Virtuosen, als (Selbst-)Darsteller, als Spielleiter imaginieren, Leser folgen den jeweiligen Spielregeln, um die erfundenen Welten fiktionaler Texte zu betreten. Religiöse Texte wiederum greifen oft zu besonderen Darstellungsformen, um das Besondere, Außeralltägliche von und zu dem sie sprechen, mitzukommunizieren; sie brechen bewusst Regeln und Erwartungen, um eine besondere religiöse Sprache dann wiederum eigenen Regeln zu entwerfen. Wie figurieren poetische Texte das, was in ihnen zum Ausdruck gebracht wird, welchen Regeln unterwerfen sie sich und wie setzen sie ihren besonderen Charakter in Szene? Ist das poetische Sprechen von Gott oder dem Heiligen ein wesentliches Moment religiösen Ausdrucks und wenn ja, wie wäre diese Tatsache religionswissenschaftlich oder theologisch zu reflektieren? Und eröffnet sich damit nicht ein breites Feld für die Diskussion von Literatur und Religion?

Organisation: Daniel Weidner und Robert Buch

Programm

Donnerstag, 6. Oktober

9:00-9:30 Begrüßung

9:30-10:30 Gemeinsame Lektüre: Hans-Georg Gadamer, Der Begriff des Spiels

Kaffeepause

11:00-13:00

Marten Weise (Frankfurt am Main): Das Theater der Jesuiten: Spiel mit den Ähnlichkeiten?

Lynn Schroeter (Bochum): Inszenierte Passion. Die Oberammergauer Passionsspiele

Mittagspause

14:00-16:00

Daniel Wörner (Tübingen): Jedermann im 21. Jahrhundert. Beobachtungen zum Prolog von jedermann (stirbt)

Alexander Schwan (Berlin): Theologies of Modern Dance

16:30-18:30

Daniel Ellwanger (Leipzig): Heilende Nachahmung. Lourdes, die Pilger und die Literatur

Gemeinsame Lektüre: Urs von Balthasar, Theodramatik

20:00 Gemeinsames Abendessen


Freitag, 7. Oktober

9:00-11:00

Gemeinsame Lektüre: Johan Huizinga, Homo ludens

Felix Jueterbock (Bochum): Realitätsverdopplung und Reflexionsblockaden. Systemtheorie als Rahmen für einen Vergleich zwischen dem Spiel und dem Heiligen

Kaffeepause

11:30-12:30

Claire Schleeger (München): Göttliche Komödien, Christusnarren und „profane Passion“ in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Mittagspause

14:00-16:00

Gemeinsame Lektüre: Roger Caillois, Das Spiel und das Heilige

Deborah Casewell (Bonn): Das Spiel des Heiligen und Dämonischen in Manns Dr. Faustus

16:00-16:30 Abschluß und Feedback

Teilnahme nur nach Anmeldung; bei Interesse schreiben Sie bitte an

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