Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Konfession: Literarische Subjektivierung und kulturelle Differenz

Forum Literatur und Religion
Organisiert von Karl Tetzlaff und Daniel Weidner
18.-19. Oktober 2024, Leucorea, Wittenberg

Bekennen, Bekenntnisse und Konfessionen sind eng aufeinander bezogen: Sie stellen gleichzeitig Formen kultureller und sozialer Klassifizierung dar, die tief in die Individuen hineinreichen, und Sprechakte der Subjektivierung, die wiederum in Dispositive der Äußerung und textuelle Überlieferungen eingebettet sind. Gerade Literatur wurde lange – und vielleicht bis heute – stark in konfessionellen Zusammenhängen produziert und konsumiert und hat nicht selten konfessionelle Zugehörigkeiten verhandelt. Zugleich arbeiten literarische Texte an den Formen des Bekennens, die immer schon zwischen Sprechakt und Schrift, Intimität und Öffentlichkeit, Subjekt und Norm angesiedelt sind. Als Diskursritual betrachtet, entspringen solche Bekenntnisse gerade jenem Raum zwischen kultureller Ordnung und subjektiver Äußerung, der auch der Raum der Literatur ist. Das diesjährige Forum Literatur und Religion diskutiert literarische Strukturen in religiösen und literarischen Bekenntnistexten ebenso wie die literarische Inszenierung und Konstruktion von Konfessionen und das Nachleben konfessioneller Praktiken und Denkmuster. Wir laden junge ForscherInnen ein, ihre Projekte – Dissertationsvorhaben, Postdocprojekte, weitere Ideen – in diesem Bereich gemeinsam zu diskutieren.

Literaturwissenschaftlich betrachtet stellen Bekenntnisse zunächst eine Textgattung mit großer Tradition dar: Von Augustinus über Rousseau bis zu Baudelaire, Pessoa oder Thomas Mann bestimmten sie lange das Setting und die Rhetorik von autobiographischen Texten und deren Maskenspiel. Gerade in der Gegenwart erlebt das öffentliche Geständnis in den verschiedenen Formen des confessional writing und der Autofiktion bei Autor:innen wie Annie Ernaux, Karl Ove Knausgård oder Benjamin Stuckrad-Barre eine Renaissance, nicht selten mit explizit religiösen Referenzen. Solche Texte standen und stehen dabei im Kontext diverser Geständnispraktiken in pastoralen, juridischen oder therapeutischen Kontexten, in denen Sprechen Wirklichkeit erzeugt: Das sprechende Subjekt produziert sich selbst und bringt zugleich Schuld und Gemeinschaft hervor, inklusive der Unterscheidungen zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘. Offensichtlich transformiert sich dabei die an sich schon trianguläre Situation –  eine/r bekennt etwas vor einer/m –, wenn sich etwa die adressierte Instanz vervielfältigt oder ins Unverfügbare entzieht, wenn das Bekannte vergangen oder unsichtbar ist oder wenn der Akt des Bekennens ritualisiert, erzählerisch gedehnt oder verschriftlicht wird. Und dem bekennenden Aussprechen liegt immer schon eine Privatpolitik zugrunde, in der das Subjekt sich nicht nur enthüllt und agency gewinnt, sondern sich auch positioniert, damit auch blinde Flecke oder Leerstellen erzeugt, die dann ihrerseits bearbeitet werden müssen. Die performative und oft iterative und theatrale Natur des Bekennens situiert sich an der Schnittstelle von kulturellen Normen und Prozessen der Identifizierung und lässt sich gut mit der kulturtheoretischen Rückkehr des Subjekts verbinden, die vielleicht ihrerseits an der Berücksichtigung des Bekennens an Profil gewinnt.
Wenn Bekennen immer Gemeinschaft erzeugt, so wird für die europäische Moderne  besonders die Konkurrenz verschiedener Konfessionen zentral: Mit der Reformation verstehen sich die Protestanten als eigenes Bekenntnis, das sich um eine Gruppe von schriftlich festgelegten Glaubenssätzen sammelt; im ‚säkularen‘ Staat der Moderne wird dieses Modell auf andere Gruppen übertragen, die – nicht ohne Spannungen – zu ‚Konfessionen‘ werden: zuerst der katholischen, dann der jüdischen, heute der muslimischen. Der Wettbewerb zwischen den Konfessionen ist auch eine wichtige und oft noch übersehene Triebkraft der aggressiven globalen Ausbreitung Europas: Kolonisation ist immer auch Mission, und Mission ist immer konfessionell markiert, von der Universalität der einen Kirche zum manifest destiny protestantischer Neugründungen. In Europa selbst, und insbesondere im bikonfessionellen Deutschland ist der Konfessionsstreit kulturell äußerst produktiv: Katholiken und Protestanten entwickeln konkurrierende Praktiken der liturgischen, theatralen und literarischen Repräsentation, in denen diese Repräsentationen selbst zum Streitgegenstand werden – das reflektiert sich etwa im Streit über das ‚Symbol‘ oder den ‚blanken‘ Realismus. Überhaupt werden Herausbildung und Stabilisierung von Konfessionen wesentlich durch literarische Texte unterstützt, weil jene sich als vorgestellte Gemeinschaften permanent neu inszenieren müssen.

Wie gehen literarische Texte mit den Formen des Bekennens um, und mit welchen literarischen Formen arbeiten religiöse Bekenntnistexte? Von den Bußpsalmen über die klassischen religiösen Autobiographien bis zu den höchst diversen Bekenntnisformeln verschiedener Religionen samt deren narrativer Einbettung fällt auf, dass die Verschriftlichung des Bekennens zu literarischer Komplexität neigt. Literatur im engeren Sinne greift offensichtlich auf diese Komplexität zurück und entwickelt sie weiter, indem sie etwa andere Szenarien des Bekennens – gegenüber der Geliebten, den LeserInnen – entwirft oder die oft mit dem Bekenntnis verbundene Konversionserzählung ausspinnt. Das Verhältnis von Bekenntnis und Literatur bleibt dabei dialektisch und reflexiv: Literarische Texte können Geständnisse fingieren, aber auch Fiktionen gestehen und sich so wieder auf Wirklichkeit – oder eben: die Wirklichkeitseffekte des Bekennens – beziehen. Welche Konstellationen lassen sich dabei beobachten, welche Traditionen bilden sich heraus, welche Möglichkeiten eröffnet das dem Bekennen und der Literatur? Wie wird dabei jeweils auf religiöse, aber auch juridische und therapeutische Formen des Bekennens zurückgegriffen, und was gewinnt die Lektüre insbesondere moderner Texte, wenn man auf diese Bezüge achtet? Lassen sich dabei spezifische konfessionelle – katholische, protestantische, jüdische – Formen beobachten und wie sind diese zu beschreiben?

Wie lässt sich die Wechselwirkung zwischen sozialer Wirklichkeit und subjektivem Sprechakt im Bekennen beschreiben? Für die frühe Neuzeit hat sich das Paradigma der Konfessionalisierung als fruchtbar erwiesen, weil es sowohl Prozesse der Sozialdisziplinierung als auch der Subjekt-Werdung und des Self-Fashioning umgreift und damit deutlich macht, wie kulturelle Texte als Rollenmodelle wirken und zugleich Rollenspiele und alternativer Entwürfe ermöglichen. Lässt sich dieses Paradigma auch auf andere Epochen übertragen oder sollte man es durch andere ersetzen? Wie verhält sich die Sozialdisziplinierung zur ‚Sorge um sich‘ und den diversen Praktiken der Kultivierung der Aufmerksamkeit, die oft auf die traditionellen konfessorischen Techniken der Selbstbeobachtung und der Askese inklusive der verschiedenen Schreibrituale zurückgreifen? Lässt sich der permanente Zwang zur Selbstdarstellung, dem das spätmoderne Selbst unterworfen ist, als Geständniszwang beschreiben – und wer wäre sein Adressat? Oder allgemeiner: Was macht die Öffentlichkeit und ihre sich wandelnden politischen und medialen Bedingungen mit dem Bekenntnis?

Welche Politik verbindet sich mit dem Bekennen und dem Bekenntnis? Noch lange bis ins zwanzigste Jahrhundert sind zumindest in Deutschland die Konfessionen wichtige Formen der Vergemeinschaftung und Konfessionskonflikte wichtige Konflikte, die auch in der Literatur ausgetragen werden – etwa in der Flut von historischen Romanen über den Kulturkampf, die entscheidend zur Erfindung der deutschen und protestantischen Nation beitragen. Zugleich pluralisieren sich diese Differenzen, indem das Judentum als dritte Konfession, dann der oft als vierte Konfession bezeichnete Säkularismus verschiedener Weltanschauung in der Öffentlichkeit diskutiert werden, und sich in den Konfessionen selbst der Gegensatz von Liberalen und Konservativen ausbildet. Handelt es sich hier einfach um Übertragungen eines protestantischen Modells – so dass, wie postkoloniale TheoretikerInnen argumentieren, die moderne Säkularisierung eigentlich eine Protestantisierung ist – , oder entsteht hier etwas Neues? Wie positionieren sich diese Konfessionen gegeneinander, wie nehmen sie jeweils die anderen wahr, wie gestalten sich ihre Verhältnisse untereinander und wie nehmen sie auf andere kulturelle Differenzen – etwa auf race, class und gender – Bezug?
Interessierte junge ForscherInnen sind eingeladen, Exposés ihrer Forschungsprojekte (ca. 5 Seiten) und/oder ein Vortragsabstract (ca. 2 Seiten) einzureichen. Bitte schicken Sie Ihr Exposé oder Abstract sowie ein CV oder ein paar Zeilen zu Ihrem akademischen Werdegang bis zum 10.6. an

Die Auswahl der TeilnehmerInnen wird zügig erfolgen, so dass genügend Zeit ist, die Anreise zu planen. Die Kosten für die (innerdeutsche) Reise sowie den Aufenthalt werden erstattet. Bei Interesse kann der Beitrag in einem gemeinsamen Band oder Heftschwerpunkt veröffentlicht werden.

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